Momente des Glücks möglich machen

05.08.2023

Brigitte Husi begleitet und betreut im Lindenhof seit vielen Jahren demenzkranke Menschen und deren Angehörige. Kaum jemand weiss mehr über das Leiden als sie. Ein wichtiger Grundsatz lautet: Oft ist weniger mehr.

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Das menschliche Gehirn gilt als die komplexeste Struktur im uns bekannten Universum. Es ist faszinierend und rätselhaft zugleich. Es befähigt uns zu unglaublichen Höchstleistungen. Zerfällt es, beobachten wir eine unglaublich fiese Krankheit: Demenz. Obwohl: Angebracht ist diese Bezeichnung unter Fachleuten längst nicht mehr. Sie leitet sich aus den lateinischen Wörtern «de» und «mens» ab – was wörtlich übersetzt bedeutet, dass jemandem der Verstand abhandengekommen ist.

Brigitte Husi spricht an ihren Vorträgen deshalb lieber von neurokognitiven Störungen. Sie setzt sich seit Jahrzehnten mit allen Facetten der Krankheit auseinander. Seit 24 Jahren ist sie für den Oftringer «Lindenhof», das Kompetenzzentrum für das Leben im Alter, tätig; sie leitet dort die Fachstelle Demenz und Altersfragen. Sie weiss: Demenz macht vor niemandem Halt. Und: Demente Personen seien jene Kranken, denen am meisten Unrecht widerfahre. «Man sieht ihnen das Leiden nicht an.»

Ein Leiden, das immer mehr Leute einholt. Treffen die Schätzungen der Organisation Alzheimer Schweiz zu, dann sind die Herausforderungen gewaltig, die auf das Gesundheitswesen zukommen: Rund 150 000 Menschen mit Demenz lebten 2022 in der Schweiz. Wissenschaftliche Prognosen gehen davon aus, dass es 2050 über doppelt so viele sein werden.

Die Belastung für die Betroffenen, aber auch für die Angehörigen ist enorm, wie Brigitte Husi aus Erfahrung weiss. Dass Angehörige die Krankheit verstehen, quasi in die Welt eines demenzkranken Menschen eintauchen, sei enorm wichtig. Wie gut sie das selbst kann, demonstrierte sie am Donnerstag an einem – trotz Ferienzeit gut besuchten – Informationsanlass für betroffene Angehörige im «Lindenhof». Die Auseinandersetzung mit der Krankheit sei eine «Leidenschaft» von ihr, sagte sie. Immer geht es ihr darum, die Lebensqualität von dementiell Erkrankten so gut wie möglich und so lange wie möglich zu erhalten – mit so wenig Pillen wie möglich. «Medikamente sind ein Segen», sagt sie. Diese stellten Patientinnen und Patienten aber einfach oft still. Wirkliche Lebensqualität sei das nicht. Deshalb frage sie sich immer: «Welche Strategien gibt es, um das Leben einer erkrankten Person zu verbessern? Was kann man noch ausprobieren?»

Erkrankte sind häufig schnell überfordert
Oft sind es Kleinigkeiten, die Betroffenen helfen, wie Husi aus vielen Beispielen weiss. Da ist beispielsweise der Mann, der noch genau weiss, welche Medikamente er zu welcher Zeit nehmen muss; aber vergessen hat, wie man den Wasserhahn bedient. Hier reicht eine gefüllte Wasserflasche in der Nähe, um ihm diese Selbstständigkeit zu erhalten. Oder da ist der Patient, der von seiner Frau zuhause betreut wird und plötzlich verängstigt ist und nicht mehr schlafen kann. Die Frau hat neue Bettwäsche gekauft; das Überziehen der alten Garnitur reicht, um die Situation zu beruhigen.

Wenn Angehörige versuchen, sich in die Welt einer geliebten und zugleich erkrankten Person zu versetzen, können Sie auch mit ihren eigenen Belastungen besser umgehen. Demenzkranken fehlt die Einsicht in ihr Leiden, Agnosonosie heisst dieses Verhalten in der Fachsprache. Aber ist das Leugnen der eigenen Vergesslichkeit ein Lügen? Husi weiss es besser: Es ist eine Strategie, die fast immer auftritt, um die eigene Würde zu schützen.

Was Angehörige auch wissen sollten: Sie wollen ihren erkrankten Liebsten eine Freude machen – und bewirken oft das Gegenteil. Ein Beispiel sind üppig gedeckte Tische. Menschen mit Demenz im fortgeschrittenen Stadium sind damit heillos überfordert. Vielleicht äussern sie sogar den Wunsch, wieder einmal vor einem solchen Tisch zu sitzen. Es ihnen aber dann tatsächlich zu ermöglichen, ist keine gute Idee: Sie können die Reize nicht verarbeiten, werden von Ängsten befallen – eine solche Episode könne schlimmstenfalls einen weiteren Demenzschub auslösen und die Krankheit verschlimmern. Auch von abendlichen Telefonanrufen rät sie ab: «Sie wühlen meist nur extrem auf», sagt sie.

Brigitte Husi spricht von «Lichtungen», die wertvoll sind: Einfach mit Betroffenen Zeit verbringen, ihnen auf Augenhöhe zuhören, in ihrer Welt bleiben (siehe dazu auch Box unten). So bereite man Demenzkranken Momente des Glücks – auch wenn sie sich fünf Minuten später nicht mehr daran erinnern könnten.

Quelle: Zofinger Tagblatt / Philippe Pfister (05.08.2023).


Weiterer Vortrag am 30. November

Am 30. November findet im «Lindenhof» ein weiterer Informationsanlass rund um das Thema Demenz statt (18 bis 20 Uhr). Zur Sprache kommen unter anderem ganz konkrete Herausforderungen, vor denen Angehörige stehen, und wie diese am besten zu bewältigen sind.